Bestrebungen zur Beseitigung der Lücken im Eisenbahnnetz
Autor: Dr. Werner Dietrich
Die Frage des eisenbahntechnischen Lückenschlusses von Halle ins nordöstliche Mansfelder Harzvorland und zum Halleschen Sophienhafen rief in den 1880er und 1890er Jahren verschiedene Interessengruppen auf den Plan. Den ersten Vorstoß unternahm ein Komitee unter Vorsitz des Rittergutsbesitzers Ludwig Nette aus Beesenstedt. Am 12. Juli 1880 reichte es beim Magistrat der Stadt Halle ein Projekt zur Förderung des Baues einer Eisenbahn von Halle nach Schwittersdorf ein. Diesem Komitee gehörte auch die „Consolidirte Hallesche Pfännerschaft“ an, welche bereits seit 1876 auf einer eigenen 900 Millimeter-Schmalspurbahn Brennstoffe aus den Kohlengruben von Alt-Zscherben zu den Siedehäusern nach Halle transportierte. Von der Errichtung einer solchen Schmalspurbahn ging auch das bewusste Projekt aus.
Die neue Linie sollte, unter Benutzung der pfännerschaftlichen Bahn über Lieskau, Benkendorf, Salzmünde berührend, Quillschina, Wils, Fienstedt, Zörnitz und Beesenstedt nach Schwittersdorf führen. Im Halleschen Stadtgebiet könnte sie, ausgehend von der „pfännerschaftlichen Locomotiveisenbahn“, über die Pulverweiden, die Saale querend, die Zuckersiederei, anschließend die Promenade am Waisenhaus passierend, schließlich am Thüringer Bahnhof Verbindung zum Knoten der Hauptbahnen haben. Getragen werden sollte das Unternehmen von kommunalen und privatrechtlichen Kräften. In diesem Sinne reichten die Antragsteller ab Herbst 1880 in zwei Anträgen ihr Anliegen bei der Königlichen Provinzialregierung in Merseburg ein.
Mithin bedurfte es einer langen und komplizierten Abwägung der Interessenlage aller Beteiligten und Betroffenen, bis der Merseburger Regierungspräsident im Frühjahr 1882 die Anträge endgültig ablehnte. Die preußische Eisenbahnpolitik war zu jener Zeit vollends mit der Verwirklichung des Staatsbahngedankens beschäftigt.
Zwei weitere Jahre vergingen, bis am 22. September 1884 einflussreiche Bürger und Unternehmer aus Halle den Magistrat in einer Petition ersuchten, endlich eine zweckmäßige Verkehrsanbindung für den Sophienhafen zu prüfen. Die Stadt griff diese Initiative auf und unterstützte sie mit dem Konzept einer normalspurigen Staatsbahn. Dabei setzte der Magistrat auf die für Halle bis 1894 zuständige Königliche Eisenbahn-Direktion (KED) Erfurt der Preußischen Staatseisenbahnen. Aber die mit der KED aufgenommenen Verhandlungen scheiterten.
Jetzt blieb dem Magistrat nur noch die Möglichkeit, eine Hafenbahn mit privatem und kommunalem Kapital zu finanzieren. Dennoch stockte das Projekt, da die KED Erfurt die Abnahme der ersten Bauentwürfe immer wieder verschob. Die Preußische Staatseisenbahn erweiterte zur gleichen Zeit ihre Anlagen in Halle, was auch den Anschluss der geplanten Hafenbahn zur Staatsbahn beeinflusste. So zogen sich die Projektierungen, Verhandlungen und Genehmigungen zur Freigabe von Teilstücken des gesamten Projekts über Jahre hinweg. Letztlich wurde der Bahnbau in zwei Schritten genehmigt. Dem bereits am 17. August 1888 baupolizeilich freigegebenem Abschnitt Sophienhafen-Turmstraße folgte am 7. September 1891 die Verbindung von der Turmstraße zum alten Thüringer Bahnhof mit dortigem Staatsbahnanschluss.
Bald darauf schuf ein Wandel in der Eisenbahnpolitik Preußens günstigere Bedingungen für den Bau und Betrieb der Hafenbahn. Das am 28. Juli 1892 erlassene „Gesetz über Kleinbahnen und Privatanschlussbahnen“ bot dafür den juristischen Rahmen und beseitigte insofern die durch das Staatsbahnmonopol hervorgerufenen Hemmnisse, als es den Bau von Kleinbahnen der Initiative der interessierten öffentlichen Verbände (Provinzen, Kreise, Gemeinden) und der Privatwirtschaft überließ. Noch vor Inkrafttreten des Gesetzes hatten der Hallesche Magistrat und Interessenten aus Stadt und Wirtschaft am 27. April 1892 eine „Hallesche Hafenbahn AG“ ins Leben gerufen. Ihr Anlagekapital betrug eine Million Mark. Die Gesellschaft passte die Bauunterlagen dem neuen Kleinbahngesetz an, woraufhin sie am 16.Januar 1893 vom Merseburger Regierungspräsidenten die Betriebsgenehmigung für die Hafenbahn erhielt.
Nachdem das Projekt Hafenbahn ein glückliches Resultat gefunden hatte, zeigte die Stadt Halle jetzt deutlich und demonstrativ ein Interesse an der eisenbahntechnischen Erschließung des nordwestlichen Hinterlands. Zur treibenden Kraft entwickelte sich Oberbürgermeister Staudte. Er warf wieder das Projekt einer Verbindung zwischen Halle und Schwittersdorf auf, deren Weiterführung nun bis nach Hettstedt angedacht wurde. Damit stand der OB im Einklang mit den Forderungen und Unternehmungen der ortsansässigen Fabrikanten, Rittergutsbesitzer, Amtsvorsteher sowie Repräsentanten von Saalkreis und Mansfelder Seekreis, die in der Vergangenheit nie verstummt waren. Doch allen Anfragen bei der Preußischen Staatseisenbahn war der Erfolg versagt geblieben.
Auf Einladung des Halleschen Oberbürgermeisters und nach Vorbesprechungen der interessierten Kreise konstituierte sich am 4. Juni 1893 ein Ausschuss, der auf der Grundlage des preußischen Kleinbahngesetzes von 1892 den Bau einer normalspurigen Kleinbahn von Halle über Schwittersdorf, Polleben und Gerbstedt nach Hettstedt beschloss.
Die notwendigen Vermessungen der geplanten Trasse übertrug er der in Halle ansässigen Baufirma Knoch & Kallmeyer. Im Frühjahr 1894 billigte der Ausschuss den bereits im vergangenen Herbst fertig gestellten Bahnentwurf. Allerdings konnten die ländlichen Interessenten und die Stadt Halle von den für Grunderwerb, Bau und Betriebsmittel immerhin veranschlagten 4,1 Millionen Mark nur 1,5 Millionen Mark zeichnen. Der Deckung der Restsumme dienten Verhandlungen mit der bekannten Eisenbahn-Bau- und Betriebsgesellschaft Lenz & Co. Nachdem die Stettiner Firma eine Beteiligung am Unternehmen zugesagt hatte, bildete sich am 20. Dezember 1894 unter dem Vorsitz des Oberbürgermeisters Staudte die „Halle-Hettstedter Eisenbahn-Gesellschaft“. Entsprechend dem Anteil am Stammkapital (2,6 Millionen Mark) wurde Lenz & Co. Hauptaktionär der Gesellschaft. Nach der Fertigstellung der Strecke oblag der Firma über Jahrzehnte hinweg deren Betrieb. Obschon die Hauptgenehmigung der H.H.E. seitens des Königlichen Regierungspräsidenten bereits am 23. April 1895 vorlag, trat die Genehmigungsurkunde erst mit dem 14. Juli 1895 in Kraft.
Nach der Fusion mit der bereits zwei Jahre zuvor in Betrieb gegangenen Halleschen Hafenbahn AG entwickelte sich die H.H.E. zur profitabelsten Kleinbahn im Imperium von Lenz & Co.