Nach 1880 erschienen die ersten Dampftriebwagen auf deutschen Eisenbahngleisen. Besonders für Nebenbahnen mit geringem Verkehrsaufkommen stellten sie eine Alternative zu den lokbespannten Zügen dar. Allerdings blieb ihr Einsatz auf wenige Klein- und Straßenbahnen begrenzt. So wurde der Betrieb einer Dampfstraßenbahn auf der Strecke von Dessau nach Wörlitz erwogen, aber nicht realisiert. Man suchte nach anderen wirtschaftlichen Lösungen, welche eine größere Reichweite und eine schnellere Betriebsbereitschaft ermöglichten. Dessau steht mit der 1894 gegründeten Deutschen Gasbahngesellschaft mbH im Fokus der weiteren Entwicklung.
Sie war maßgeblich an der Entwicklung und dem Einsatz von Lokomotiven mit Verbrennungsmotor in Deutschland beteiligt und erwirbt die Patente eines 1892 gebauten Motorwagens mit Gasbetrieb. Bis 1899 werden Gasstraßenbahnmotorwagen und Gaslokomotiven in das Lieferprogramm aufgenommen. Aus der Gasbahn-Gesellschaft entsteht 1900 die Dessauer Waggonfabrik GmbH, 1906 wird sie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Dessau-Wörlitzer Eisenbahn beauftragt die Dessauer Waggonfabrik mit dem Bau von benzolgetriebenen mechanischen Verbrennungstriebwagen (VT). Nach der eisenbahntechnischen Ausstellung 1924 in Seddin beabsichtigt die Deutsche Reichsbahngesellschaft (DRG), zunächst auf Nebenstrecken erstmals Verbrennungstriebwagen mit mechanischem Antrieb einzusetzen. Innerhalb eines Versuchsprogramms bestellt die DRG ab 1925 eine erste Serie von mechanischen Verbrennungstriebwagen, insgesamt 13 Stück bei vier Waggonbaufirmen; die DRG betrat damit eisenbahntechnisches Neuland. Eine dieser Firmen ist die Waggonfabrik Dessau AG, sie liefert 1928 und 1929 eine Serie von drei Fahrzeugen, den VT 763, VT 764 und 765; sie verkörpern die technischen Innovationen der 1920-er Jahre. Aus diesem Versuchsprogramm sind bis heute lediglich zwei VT erhalten geblieben, der VT 761 der Waggon- und Maschinenbau AG Görlitz und der 1928 gebaute VT 764 der Waggonfabrik Dessau AG, sie sind die letzten Zeugen aus den Anfängen des Triebwagenbaus mit Verbrennungsmotoren. Die Fahrzeuge stellen eine neue Entwicklung auch im Waggonbau dar:
- das genietete Untergestell trägt nun das genietete Wagenkastengerippe in Ganzstahlbauweise als Abkehr der bis dahin angewandten Holzbauweise
- die Hecht-Form des Wagenkastens mit eingezogenen Stirnseiten (Form folgt Funktion, denn diese Form der Untergestellkonstruktion hat den Zweck, auf die Puffer bzw. Kupplung in der Pufferbohle einwirkende Zug-/Stoßkräfte nach außen in den Langträger abzuleiten) war gleichfalls ein Novum im Triebwagenbau und entspricht den zwischen 1921 und 1926 angeschafften Schnellzug- und Schlafwagen der preußischen Staatsbahn bzw. der DRG
Der VT 764 ist der Vertreter (mit VT 763 und 765, beide verschrottet) der ersten in der Waggonfabrik Dessau gebauten Verbrennungstriebwagen für die Deutsche Reichsbahngesellschaft und der letzte erhaltene Vertreter vierachsiger regelspuriger Benzoltriebwagen der Waggonfabrik Dessau.
Der VT 764 wurde 1928 dem Bahnbetriebswerk (Bw) Angermünde angegliedert und später zum Bw Nürnberg Hbf umbeheimatet. Alle drei Triebwagen gingen zwischen 1946 und 1953 durch Ausmusterung aus dem Bestand der Deutschen Bundesbahn. Auf der Suche nach einem geeigneten Fahrzeug für ihre Mittelgebirgsstrecken erwarb die Württembergische Eisenbahngesellschaft 1954 den Triebwagen. Nach einigen Modifikationen, er erhielt beispielsweise 4 Büssingmotoren mit je 210 PS Leistung, verkehrte der Triebwagen als Schlepptriebwagen, bis er 2001 bei einem Unfall beschädigt und abgestellt wurde.
Von den Ulmer Eisenbahnfreunden konnte der HHE e.V. den Triebwagen im März 2009 erwerben. Mit Mitteln des Fonds Technische Denkmale sind zunächst die Unfallschäden instand gesetzt worden. Im Jahre 2023 wurde der VT 764 als bewegliches Denkmal ausgewiesen. Der HHE e.V. möchte nun das Fahrzeug denkmalgerecht instand setzen.
Künftige Nutzung
Der Triebwagen ist ein bedeutendes Industriedenkmal des Landes Sachsen-Anhalt und Deutschlands. Er soll als ein lebendiges Zeugnis des Beginns der Entwicklung von Verbrennungstriebwagen erlebbar für die Öffentlichkeit wieder in Betrieb genommen werden. Gleichzeitig könnte er einen hohen Dokumentationswert besitzen.
Nach seiner geplanten Wiederinbetriebnahme soll der Triebwagen als Botschafter der Industriekultur des Landes Sachsen-Anhalt deutschlandweit eingesetzt werden. Weiterhin könnte er im Rahmen von Ausflugs- und bahnhistorischen Verkehren auf folgenden Strecken in Sachsen-Anhalt zum Einsatz kommen: